dass sich immer mehr Menschen vegetarisch oder vegan ernähren, „schwebt“ im Moment etwas in den Hintergrund: „Jetzt vorbestellen: Pute oder Gans zum Fest“, ein solches Schild steht an Lebensmittelläden oder Bauernhöfen.
Eine Geflügelart prägt im Moment auch die politische Atmosphäre. Joe Biden als US-Präsident, Olaf Scholz als Bundeskanzler: Jeder der beiden gilt derzeit als „lame duck“, als „lahme Ente“. Das politische Mandat endet absehbar, große Beschlüsse sind nicht mehr zu erwarten, drückt dieser Begriff aus.
Im Europa-Podcast des Westdeutschen Rundfunks, punktEU, wurde gefragt: Legt dies jetzt die ganze Europäische Union lahm? Werden die drängenden gesellschaftlichen Fragen und politischen Entscheidungen im Wahlkampf „zerschreddert“, statt gute Lösungen für sie zu finden?
Ein geflügeltes Tier ganz anderer Art zeigt an, was vielleicht gerade nottut gegen die lahmen Enten und auch „zum Fest“ wichtig werden kann: ein Drache.
Der Kinder- und Jugendpsychiater und Autor Oliver Dierssen, tätig in der Nähe von Hannover, erzählte Ende November von der großen Ritterburg, die er mit viel Liebe, Ritterinnen, Zauberschwertern und Räuberbanden ausgestattet hat. Seit gut acht Jahren steht sie in seinem Therapieraum. Bis zum Jahr 2020, so beschrieb er auf der Plattform X, „hat fast jedes Kind mit der Burg gespielt“, während er sich mit den Eltern über die Krankengeschichte des Kindes unterhielt. „Viele Kinder trauen sich nicht mehr an die Burg. Sie bleiben an der Seite der Eltern. Auch mit Ermutigung klappt es oft nicht. Wilde Rollenspiele finden selten statt. Ich werde nicht mehr beschossen und auch nicht mit dem Flugdrachen angeflogen“, beschreibt Dierssen.
Dass Kinder nicht mehr spielen, führt er vor allem auf die gestiegene Nutzung elektronischer Medien und vor allem der dort verfügbaren Spiele zurück. Vielleicht, so möchte ich anfügen, ist das nicht der einzige Grund. Vielleicht ist es auch die Unsicherheit: Spielen alle nach den gleichen Spielregeln, selbst, wenn sie vorher gemeinsam vereinbart wurden? Das ist nicht mehr sicher.
„Homo ludens (lat.: ‚der spielende Mensch’) spielt nicht mehr“, beklagte die Literaturwissenschaftlerin Gertrud Höhler im konservativen Magazin „Cicero“. Wenn homo ludens spielt, dann sind es „ernste Spiele“.
Homo ludens spielt doch, mag man einwenden. Noch nie hatten Spiele solche Hochkonjunktur, alle Welt spricht von „Gamification“. Das zielt jedoch vielfach gerade nicht auf das Spiel. „Unter Gamification versteht man die Integration von Spielelementen in spielfremde Umgebungen“, definiert Laura Basten. Von der Bildung bis zur erfolgreichen Bewerbung im Arbeitsleben werden Prozesse in Spiele übersetzt. Dabei überwiegt der Wettbewerbsgedanke, es soll jeweils „das Beste“ aus denjenigen herausgeholt werden können, die am Spiel teilnehmen.
Es braucht wohl mehr Raum für das absichtslose Spiel, für wilde Rollenspiele, für Zauberschwerter, Ritterinnen und Räuberbanden.
Die Zeit mit ihren Bedrückungen braucht die Ermutigung zum Spiel. Eine beflügelte Fantasie ist ein bewährtes Mittel gegen verordnete Uniformität, wie sie in Diktaturen erwünscht sind. Im Spiel wird nicht jeder Angriff persönlich genommen, sondern – eben: spielerisch.
Die Situation der lame ducks, der politischen Aufschübe und der unsicheren Machtverhältnisse wird sich nicht schnell, nicht schlicht und einfach verändern lassen. „Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Worts Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt“, schrieb Friedrich Schiller im Jahr 1795. Wenn alle mitspielen, dann geht es nicht um „Brot und Spiele“, mit denen die Führungsschicht die Untergebenen ruhigstellt. Das gemeinsam Spielerische hilft dabei, Gegensätze zu überwinden. Ein Spiel dehnt die Zeit, in der Vorgänge nicht abgeschlossen sind und miteinander austariert werden müssen. Ein Spiel hat große Nähe zu demokratischen Prozessen und kann, wie der Soziologe Peter L. Berger beschrieb, auf einer einfachen Stufe einen Zugang zu Erfahrungen der Transzendenz vermitteln.
Festtagszeiten und lange gemeinsame Nachmittage sind immer schon geeignet für gemeinsames Mensch-ärgere-dich-nicht. Ermutigen Sie einander zum Spiel. Lassen Sie sich notfalls mit dem Drachen anfliegen, wenn es erkennbar spielerisch gemeint ist. Bringen Sie Leichtigkeit in den Diskurs. Vielleicht jetzt schon bei der Familie „vorbestellen“.
Das Team der Bischöflichen Akademie des Bistums Aachen spielt gern mit. In seinem Namen wünscht einen gesegneten Advent und ein friedliches Weihnachtsfest
Dr. Angela Reinders, Direktorin |