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Jahresthema 2023: Streitkultur

„Echt jetzt?“, werden Sie denken. „Sie kommt mit einer Definition?“

Aus bestimmten Gründen mute ich Ihnen tatsächlich eine Definition zu: Was ist Streitkultur?

„Streitkultur bezieht sich auf die Art und Weise, wie Menschen miteinander in Streitfällen umgehen. Eine positive Streitkultur zeichnet sich dadurch aus, dass die Beteiligten offen und ehrlich miteinander kommunizieren, sich aufeinander einlassen und respektvoll miteinander umgehen. Sie suchen nach Lösungen, die für alle Beteiligten akzeptabel sind, und vermeiden es, sich gegenseitig zu beschuldigen oder Vorwürfe zu machen. Eine negative Streitkultur hingegen ist geprägt von Angriffen, Vorwürfen und Schuldzuweisungen. Die Beteiligten sind weniger bereit, sich aufeinander einzulassen und eine Lösung zu suchen, sondern setzen eher darauf, dass ihre eigene Position durchgesetzt wird.

Eine positive Streitkultur ist wichtig, um Konflikte effektiv und friedlich zu lösen. Sie hilft, Spannungen und Missverständnisse abzubauen, und trägt dazu bei, dass die Beteiligten sich verstanden und respektiert fühlen. Eine negative Streitkultur hingegen kann zu langfristigen Verletzungen und Schädigungen der Beziehungen führen und dazu beitragen, dass Konflikte eskalieren.“

Zwei Dinge möchte ich Ihnen als Anmerkung dazugeben, damit Sie wissen, warum ich „jetzt echt“ mit einer Definition aufwarte.

Der Kreis der Dozentinnen und Dozenten hat das Thema „Streitkultur“ als Jahresthema der Akademie 2023 gewählt. Ihr Anliegen dabei: Die „positive“ Streitkultur in den Blick nehmen und dazu befähigen.

Die zweite Sache macht die oben stehende Definition brisant. Ich habe keine Quelle angegeben, die Definition stammt nicht von mir. Ich habe die Frage „Was ist Streitkultur“ am 21. Dezember 2022, 12:59 Uhr, an ChatGPT gestellt. Das ist ein Prototyp eines Chatroboters, kurz: Chatbot, der Dialogmodelle auf der Grundlage künstlicher Intelligenz (KI, englisch: AI) entwickelt. Dieser Chatbot von OpenAI wurde im November 2022 veröffentlicht. Er greift auf bereits gesammelte Daten zurück und erweitert mit jeder Fragestellung sein Antwortspektrum, die künstliche Intelligenz lernt also immer tiefer von menschlichen Antworten.

Haben Sie gedacht, was ich gedacht habe? Die Definition ist nicht schlecht. Gleichzeitig verstärkt sie das Anliegen, das unser Jahresthema verfolgt. Ein solcher Chatroboter mischt ja nicht nur die Lehrpersonen auf mit der Frage, was aus den Hausaufgaben wird. Weil man den Geist nicht in die Flasche zurückbekommt, haben sich viele Hochschulen schon festgelegt: Wer studiert, darf Tools nutzen, die Texte generieren, muss sie aber als Quelle benennen. Die wissenschaftliche Leistung besteht einerseits darin, verantwortungsvoll das richtige Werkzeug auszuwählen.

Andererseits werden Transferleistungen wichtiger: Was bedeutet das, was ich formuliere oder formulieren lasse und auswähle, für meine tägliche Praxis? Wie und mit wem diskutiere ich die Ergebnisse und welche Sprachkultur pflege ich dabei? Wie steht es um meine sozialen Kompetenzen in einem solchen Austausch?

Wenn wir nun unsere Gehirnleistung nicht mehr für Definitionen brauchen, weil wir Antwortmaschinen nutzen können, wozu nutzen wir sie dann? Für Fragen, und wenn ja, für welche?

Dahinter liegt das, was unsere Akademiearbeit leisten möchte: zu Debatte und Diskurs befähigen, bei Begegnungen feststellen, dass man eine Sache so und auch ganz anders betrachten kann, unterm Strich: die Gesellschaft demokratiefähig erhalten und offen für einen Sinnhorizont, den weder Mensch noch Roboter in das Leben eintragen kann.

Angela Reinders, 1. Januar 2023